Hiroko Hirasawa, Wien-Tokio

Rudolf Dittrich und die Musikerziehung in Österreich
in den Jahren 1911 - 1919

Im Zuge meiner Dissertation über Rudolf Dittrich, der sich als Musiker und Musikpädagoge seinerzeit grosse Verdienste in Wien erworben hat, bin ich auf folgende Dokumente gestossen.

Rudolf Dittrich, geboren am 25. April 1816 in Biala, Galizien, kam mit 17 nach Wien und studierte am Konservatorium der Gesellschaft der Musikfreunde Wien, Violine bei Joseph Hellmesberger (d.J.), Kontrapunkt und Orgel bei Anton Bruckner, im Nebenfach Klavier bei Wilhelm Schenner. Im Jahre 1882 absolvierte er seine Studien mit sehr gutem Erfolg, ging dann 1888, auf Empfehlung Joseph Hellmesbergers (d. Ä.) nach Japan und wurde dort an der Tokyo-Musik-Akademie „Artistischer Director“. Nach einer sechsjährigen erfolgreichen Lehrtätigkeit in Japan kehrte er im Jahre 1894 nach Wien zurück und begann hier seine eigentliche grosse Karriere: Er wurde 1901 Hoforganist, 1906 Orgel-Lehrer am Wiener Konservatorium und 1907 Klavierlehrer bei den Sängerknaben der Hofkapelle. 1907 erhielt er ausserdem den Professor-Titel vom Ministerium für Kultus und Unterricht.

Eine seiner grossen Leistungen war seine Mitwirkung bei der Gründung einer umfassenden Organisation der Musikerziehung in der österreichisch-ungarischen Monarchie. Diese entstand im Jahre 1911 als Österreichischer Musikpädagogischer Reichs-Verband. Am 3. Mai 1911 berichteten beispielsweise auch die „Signale für die musikalische Welt“1 über den ersten Musikpädagogischen Kongress, der vom 2. bis 24. April 1911 in Wien stattfand (1200 Teilnehmer) und zur Gründung eines Verbandes in Wien führte. Der Kongress wurde vom Kultusminister, vom Landesausschuss und vom Bürgermeister der Stadt Wien subventioniert. Der Direktor und die Professoren der k. k. Akademie für Musik und darstellende Kunst beteiligten sich in grosser Zahl daran. Der Name Dittrich wurde dabei als Referent erwähnt. In seinem Referat hat er auf die Volkssingvereine anderer Länder hingewiesen und mit Nachdruck für die Mittelschulen einen obligaten Gesangsunterricht und für die Hochschulen Fortbildungskurse verlangt. Im Januar 1911 wurde der österreichische Musikpädagogische Reichs-Verband, laut Erlass des k. k. Ministeriums des Inneren, bewilligt. In der Folge gab er die Musikpädagogische Zeitschrift, Organ des österreichischen Musikpädagogischen Reichsverbandes heraus. Dittrich wirkte von Anfang an, zusammen mit Prof. Hans Wagner-Schönkirch2 und Dir. Rudolf Kaiser3 u. a. im Vorstand dieser Versammlung mit. Der Zweck des Verbandes war die Verbesserung des gesamten Musikunterrichtswesen und die Hebung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Stellung des Musiklehrerstandes.4

Nach drei Jahren folgte dieser ersten Zusammenkunft der II. österr. Musikpädagogische Kongress, bei dem es bereits fünf Sektionen gab. Er fand vom 13. bis 15. Juni 1914 in Wien statt. Die schon unentbehrliche Mitwirkung Dittrichs zeigte sich in der Sektion A für Schulgesangsunterricht. In der Sektion B war Dittrich Vorsitzender für Prüfungswesen. In der Sektion D für Standesfragen (z. B die soziale Rechtslage und die Wohlfahrtseinrichtungen) war er ebenso engagiert und erfolgreich tätig. wie in der Sektion E für Angelegenheiten der Musikvereine und der städtischen Musikschulen.

Der im folgenden Jahr erschienene Bericht des Verbandes zeigte, dass der Kongress die Sektionen auf vier Schwerpunkte konzentriert hatte:

  1. Der Unterricht in Gesang und Instrumentalmusik an öffentlichen Schulen
  2. Prüfungswesen
  3. Berechtigungswesen
  4. Soziale Lage und Wohlfahrtseinrichtungen

Dittrich fungierte bei diesem Kongress als II. Präsident. Es ist sicher nicht als übertrieben zu bezeichnen, wenn man sein Referat für die Sektion B (Prüfungswesen) hervorhebt. Dittrich erstellte Richtlinien für das Prüfungswesen in Österreich. Er nannte die wichtigen Probleme und erklärte sie Punkt für Punkt. Sein Referat wurde am 14. Juni 1914 im Volksbildungshaus Wien V., Stöbergasse 13-15 abgehalten.

Er wies zunächst in seinem Beitrag darauf hin, dass das Ministerium für Kultus und Unterricht am 21. August 1871 eine Vorschrift über Prüfungen erlassen hätte, der sich die Kandidaten für das Lehramt des Gesanges an Mittelschulen und Lehrerbildungsanstalten, ferner des Violin- und Klavierspieles an Lehrerbildungsanstalten, zu unterziehen hätten. Damit war der Allgemeinheit insofern gedient, dass auch an Privatmusikschulen ohne Befähigungsnachweis niemand mehr als Lehrkraft angestellt werden konnte. Die Privatmusiklehrer erhielten durch diese Prüfung ein höheres Ansehen, da sie eine Art Befähigung nachweisen mussten. Dittrich schlug einheitliche Richtlinien vor, da die Städte Wien, Prag, Lemberg und alle anderen Hauptstädte ihre eigenen, von einander abweichenden Vorschriften hätten. So wäre es notwendig, dass ehestens für ganz Österreich-Ungarn neue Vorschrift mit genauen Instruktionen erlassen würden. Die folgende „Resolution“ im Anschluss an das Referat Dittrichs zeigt, wie gründlich seine Kenntnisse und wie unersetzlich seine Arbeit für die Organisation der Musikerziehung im alten Österreich war.

„Der II. Österr. Musikpädagogische Kongress richtet im Anschlusse an das durch Professor R. Dittrich erstattete Referat der Sektion B (Prüfungswesen) an den Vorstand des Oesterr. Musikpädagogischen Reichsverbandes die einmütige Aufforderung, alles Erforderliche zu veranlassen, um das Prüfungswesen der verschiedenen Kategorien von Musiklehrern einer heilsamen, höchst dringlichen Reform zuzuführen. Insbesondere wird für zweckdienlich und notwendig erachtet:

  1. Für alle Prüfungen sind einheitliche, scharf präzisierte Vorschriften und genaueste Instruktionen zu erlassen.
  2. Erhöhte Anforderungen sind bei der Lehrbefähigungsprüfung für Gesang an Volksschulen zu stellen, was nur durch zeitgemässe Ausgestaltung des Gesangunterrichtes an Lehrerbildungsanstalten und durch Errichtung eigener Schulgesangslehrerseminarien oder durch Angliederung von Fortbildungsschulen für Schulgesang an Lehrerbildungsanstalten zu erreichen ist.
  3. Schaffung einer Spezialprüfung für Gesangunterricht an Bürgerschulen als Spezialfach für Volks- und Bürgerschullehrer. (Resolution 7 des Referates A.)
  4. Schaffung einer Spezialprüfung für eigene, dem Volks- oder Bürgerschullehrerstande nicht angehörige Gesangslehrer an höher organisierten Volks- und Bürgerschulen. (Resolution 8 des Referates A.)
  5. Erhöhung der Anforderungen bei den Spezialprüfungen für nichtobligaten Unterricht in Orgel, Klavier und Violine an Bürgerschulen.
  6. Die so genannte Staatsprüfung ist einer durchgreifenden Reform zu unterziehen, u. zw.: Teilung derselben in zwei gesonderte Prüfungen:

A)    Nur für Gesanglehrer an Mittelschulen und für Musiklehrer (in Gesang, Klavier, Violine und Orgel) an Lehrerbildungsanstalten mit weit höherer, sowohl allgemeiner als fachlicher Bildung als bisher.

B)    Für Lehrer an Konservatorien, Musikfachschulen und für Privatmusiklehrer mit etwas geringerer allgemeiner Bildung als bei Prüfung A. aber mit bei weitem höheren künstlerisch-technischem Können als bei Prüfung A, ungefähr dem Lehrplane der II. Ausbildungsklasse der k. k. Akademie entsprechend.

  1. Schaffung einer Diplomprüfung als Ergänzung der Prüfung B, die frühestens 2 Jahre, spätestens 6 Jahre nach der 1. Prüfung (Reifeprüfung) quasi als Musiklehramtsprüfung abzulegen wäre, wodurch der Kandidat erst die Befähigung zur Leitung einer Musikschule oder als definitiver Lehrer an einer staatlichen, resp. mit dem Oeffentlichkeitsrechte ausgestatteten Musikschule erwerben würde.

  2. Einschränkung der Prüfungshausarbeiten, Einführung umfassender Klausurarbeiten.
  3. Forderungen, betreffend die Prüfungen: Grössere Literaturkenntnis, genauere Kenntnis des Tonwerkzeugs, höhere didaktisch-pädagogische Kenntnisse. Alle 3 Punkte in besonderer Berücksichtigung des Spezialfaches des Kandidaten Ausschaltung des vielen Gedächtniskrames, besonders in Musikgeschichte.
  4. Schaffung der Prüfungsmöglichkeit in allen 9 in Oesterreich gesprochenen Sprachen.
  5. Aufstellung ganz bestimmter und gerechter Normen für die Klassifizierung, wobei doch stets dem Haupt-, d. i. Spezialfach das grosse Gewicht zuzuerkennen wäre.
  6. Um zur Ablegung der Staatsprüfung zugelassen zu werden, ist der Nachweis des erreichten 19., bei Gesangslehrer des 20. Lebensjahres notwendig; ausserdem der Nachweis jener Bildung, auf Grund derer die Staatsbehörde das Einj.-Freiwilligenrecht verleihen kann, beim weiblichen Geschlechte einer dieser gleichzuhaltenden Bildung.
  7. Die Prüfungskommissionen sowie deren Vorsitzende sind stets aus allerersten Fachleuten zusammenzusetzen.
  8. Eine Kunstrichteramtsprüfung für Kritiker ist ins Auge zu fassen“5

Dittrichs Name als Vorsitzender ist zwischen 1911 bis zu seiner Erkrankung im Oktober 1916 in der Musikpädagogischen Zeitschrift überall zu finden. Während der schwierigen Zeit des Ersten Weltkrieges, setzte sich Dittrich für den Verband als erfahrener Pädagoge mit seiner ganzen Kraft ein, sodass er von seinen Kollegen gern „1. Präsident Prof. Dittrich“ sowie „Getreuer Eckert des Verbandes“ genannt wurde.6

Für die Geschichte der Musikerziehung in Österreich soll er als einer ihrer Gründungsväter an dieser Stelle in Erinnerung gerufen werden. Für Japan aber darf er als Organisator und auch als überaus erfolgreich tätiger Musikerzieher Japans angesehen werden.

___________________________________________________________________

1    Signale für die musikalische Welt 69 (1911), Nr. 18 vom 3. Mai 1911, S 687f.

2    K. k. Professor, Präsident des Verbandes des Musiklehrer an den Lehrerbildungs-Anstalten Österreichs, Chormeister des Schubert-Bundes und Singvereines, Bundes-Chormeister des niederösterr. Sänger-Bundes, Mitglied der k. k. Prüfungskommission für allgemeine Volks- und Bürgerschulen, Träger mehrerer Orden, etc.

3    Musikschulen-Inhaber, Chormeister und Träger der goldenen Salvator-Medaille, die von der Stadt Wien für besondere wissenschaftliche Leitungen verliehen wurde.

4    Musikpädagogische Zeitschrift 2 (1912) S. 12.

5    Ebenda. 5 (1915), S. 18f

6    Ebenda. 7 (1917), S. 65.

 

Sonderdruck aus:

Bekenntnis zur Österreichischen Musik in Lehre und Forschung. Eine Festschrift für Eberhard Würzl zum achtzigsten Geburtstag am 1. November 1995, hrsg. Von Walter Pass.

Wien: vom Pasqualatihaus 1996 (Schriftreihe Vom Pasqualatihaus, Band 11

Anmerkung Webmaster: Adresse der Autorin ist dem Webmaster bekannt. Anfragen bitte an den Webmaster richten.